Die Dorn-Methode ist eine einfache aber effektive Form der manuellen Behandlung des menschlichen Körpers. Trotz oder gerade wegen der Einfachheit des Systems stellt sich die Frage nach der Wirkungsweise der Behandlung.
Ein Aspekt, den ich den fachlich-strukturellen Überlegungen voranstellen möchte, ist die Wirkung der Art und Weise der Zuwendung des Behandlers zum Patienten.
Verschiedene Untersuchungen belegen, dass bestimmte Faktoren sich positiv auf die Ergebnisse einer Therapie auswirken. Empathie, das ehrliche Interesse an den Problemen des Klienten, das Gefühl, dass der Behandler zuhört und dem Gesagten einen Wert beimisst, eine eingehende Untersuchung und Behandlung, das Gefühl, das sich der Behandler Zeit nimmt, die vorurteilsfreie Beachtung und Behandlung des ganzen Menschen; dies sind alles Aspekte, die für sich genommen schon einen heilenden Impuls geben können.
Doch was darüber hinaus kann die Erfolge der manuellen Therapien erklären?
Alle Erklärungsansätze die ich im folgenden beschreiben und erklären möchte, haben als Grundlage bestimmte Modellvorstellungen nach denen der Bewegungsapparat und die Gelenke funktionieren sollen. Die Betonung liegt auf „Modellvorstellungen“, denn es sind nur Möglichkeiten um sich die komplexe Realität des „Wunders – menschlicher Körper“ erklären zu können.
In den Seminaren zur Dorn Methode werden an der Wirbelsäule bestimmte Untersuchungsgänge durchgeführt, welche zeigen sollen, dass ein Wirbel nicht an der anatomisch „richtigen“ Stelle sitzt. Dies wird durch den relativen Vergleich der Position der Proc. Spinosi (Dornfortsätze) zueinander erreicht. Wie Dr. Graulich und andere zeigen, kann dies als alleiniger Beweis einer „Wirbelverschiebung“ nicht ausreichen, da es viele „anatomische Normvarianten“ gibt, bei denen Dornfortsätze nicht symmetrisch, nicht gleichförmig und nicht in den zu erwartenden Größenverhältnissen vorkommen.
Ein zweiter relativer Befund ist der Versuch, die Position der Querfortsätze der Wirbel miteinander zu vergleichen, um so eine „Verdrehung“ zu erkennen. Dabei werden die Daumen mit ihrer palmaren flachen Seite oder der Außenkante rechts und links des Dornfortsatzes aufgesetzt um in das darunter liegende Gewebe „einzuschmelzen“. Der Daumen, der nach einer bestimmten Zeit weiter nach dorsal(hinten) zeigt, soll den verdrehten, zu behandelnden Wirbel anzeigen.
Das Problem an dieser Befundmethode ist, dass hier vergessen wird, dass wir den Wirbel und seine Querfortsätze nie direkt erreichen können. Die Haut, Unterhaut, Oberflächenfaszie sowie viele Schichten Muskeln mit ihren Muskelhüllen liegen zwischen dem Daumen des Behandlers und den Querfortsätzen. Ein erhöhter Tonus der autochtonen Rückenmuskulatur auf einer Seite muss nicht automatisch bedeuten, dass dort ein Wirbel „falsch steht“.Damit kommen wir zur nächsten wichtigen Frage. Es entspricht unserer Art der Vorstellung, von einem „verschobenen“ oder „verdrehten“ Wirbel auszugehen. Doch ist diese Modellvorstellung überhaupt möglich?
Durch die Beschäftigung mit der Anatomie sowie der funktionellen Anatomie kann man zeigen, dass die Wirbel einen bestimmten Bewegungsspielraum haben, der sich nach der Ausrichtung der kleinen Wirbelgelenke (Facettengelenke) sowie der stabilisierenden Bänder, Muskeln und besonders Faszienzüge richtet.
Wie ich später noch darstellen werde, ist es besonders die Spannung der Fasziensysteme des Körpers, welche als „Organ der Form“ bestimmen, wo und wie viel Spannung entsteht, und welche Auswirkung dies auf den strukturellen Körperbau hat.In der „manuellen Therapie“, wie sie Physiotherapeuten ausführen, wird nicht die Stellung der Wirbel diagnostiziert, sondern die segmentale Beweglichkeit der einzelnen Wirbel auf Bandscheibenebene und auf Ebene der Facettengelenke werden getestet und dann behandelt.
Der Schweizer Chiropraktor Dr. Beat Stoller zeigt in seinem Artikel „Der Chiropraktor und der eingeklemmte Nerv“ welche Auswirkungen eine sogenannte „Vertebrale Subluxation“ haben kann.
Die Chiropraktoren gehen von einer Beeinträchtigung der Nerven aus, welche aus den Zwischenwirbellöchern austreten. Der Begriff „eingeklemmter Nerv“ ist wissenschaftlich nicht haltbar, aber dennoch führen verschiedene Strukturen zu einer Beeinträchtigung der betroffenen Nerven.
Stoller stellt dar, dass bei einer „vertebralen Subluxation“ die Nervenwurzel beim Austritt aus dem Foramen intervertebrale beeinträchtigt werden kann, in Form von Nervenimpulsveränderungen. Diese veränderten chemo-elektrischen Informationen beeinträchtigen wiederum die Funktion im zu versorgenden Gebiet der jeweiligen Nerven.
Ein solcher „vertebraler Subluxationskomplex“ beinhaltet nach Stoller:- die veränderte Position der Wirbel macht diesen Bereich entweder hyper- oder hypomobil.
- Die durch die Verschiebung verkleinerten Zwischenwirbellöcher verändern den Informationsgehalt der chemo-elektrischen nachrichten, welche efferent (absteigend) in die Peripherie und afferent (aufsteigend) zum Gehirn transportiert werden, so dass auch der Nährstofftransport innerhalb der Nervenfasern verändert wird.
- Die Funktion der Muskeln, Sehnen und Bänder wird gestört
- Das vom entsprechenden Nerven versorgte Organ wird in seiner Funktion gestört.
Die Chiropraktoren, sowie auch die Behandler, welche mit der Dorn-Methode ihre Behandlung an den Wirbeln selber und ihren „Verschiebungen“ oder „Subluxationen“ ansetzen, versuchen über eine Stellungsveränderung der Wirbel den „vertebralen Subluxationskomplex“ aufzulösen, so dass die Informationen in Form von chemo-elektrischen Impulsen wieder entsprechend fließen können und so die Homöostase (die Selbstheilung) einsetzen kann.
Die Dorn-Behandlung ist in vielen Fällen sanfter als die Chiropraktik, aber der ideologische Ansatz, die Wirbel selber zu behandeln ist bei beiden Methoden gleich.Wie ich schon angedeutet habe, lassen die vorher beschriebenen Modellvorstellungen einen wichtigen Aspekt außer Acht.
Das System der Faszien, welches die amerikanische Biochemikerin Dr. Ida Rolf erforschte, hat als „Organ der Form“ wichtige Funktionen für den Bewegungsapparat und den ganzen Körper.
Als Faszien bezeichnet werden alle bindegewebigen Hüllstrukturen, die jeden Muskel, jede Muskelfaser, jedes Organ, jede Nervenfaser umhüllen.
Die Faszien haben die Funktion zu stützen, zu umhüllen, zu verbinden und zu trennen, dem Körper seine Form zu geben. Neue Forschungen des „Faszia Research Projektes“ unter der Leitung des Rolfers R. Schleipp zeigen, dass die Faszien keineswegs die „toten“ bindegewebigen Hüllen darstellen, wie es die Wissenschaft bisher dachte.
Faszien scheinen Zellen zu besitzen, die sich ähnlich wie Muskelzellen zusammenziehen können. Durch diese Zellen zeigen die Faszien „biplastische“ Eigenschaften, was bedeutet dass sie einerseits elastische und andererseits stabilisierende Eigenschaften haben.
Theoretische Modelle, welche die Wirbelsäule im wörtlichen Sinne des Namens als Säule betrachten, vergessen, dass ein Skelett nie von selbst steht. Ohne fremden Halt, ist es ein loser Haufen Knochen.
Die Wirbelsäule ist in dem Sinne keine Säule, der Brustkorb kein Korb. Wirbel und alle Knochen werden von Bindegewebe in einer bestimmten Position gehalten (Bänder, Bandscheiben, Faszien). Bänder und Bandscheiben bestimmen (nach Dr. Zorn) die „Nahordnung“ (Position aufeinander treffender Knochenflächen), die Faszien eher die „Fernordnung“ (Winkel zwischen den Knochen und Anpassung an die Schwerkraft). Das dreidimensionale Fasziennetz, welches den ganzen Körper umspannt und durchzieht ist daher der Gestaltbestimmende Grundträger des Körpers, weshalb Dr. Rolf vom „Organ der Form“ sprach.Diese Zusammenhänge zeigen uns, dass es das dreidimensionale Fasziennetz ist, welches auf die verschiedensten Reize reagiert; wie z.B. Unfälle, nach denen der Körper ein physisches Trauma kompensieren muss; Einflüsse der Haltung; einseitige Bewegungen; seelische und emotionale Traumata. Immer reagieren wir unbewusst mit dem autonomen, vegetativen Nervensystem welches eng gekoppelt ist mit dem Fasziennetz. Rezeptoren, welche in Muskeln und Sehnen in der Literatur schon lange nachgewiesen sind (Golgi-, Ruffini-, Paccini-, Propriorezeptoren usw.), wurden in Faszien ebenso zahlreich nachgewiesen.
Das Fasziensystem reagiert dann mit Zug und Spannung, Gegenzug und Ausgleichsspannungen, um auf die entsprechenden Reize zu reagieren.Ein im segmentalen Bewegungstest der „manuellen Therapie“ hypomobiles Segment der Wirbelsäule sowie ein „Verschobener Wirbel“ nach Stellungsdiagnose der Dorn-Methode ist nach dem Faszien-Modell also eine FOLGE von verkürzten und verspannten Faszienzügen und nicht Ursache. Das bedeutet, dass eine Entlastung des Fasziennetzes eine Entlastung des Nervensystems nach sich zieht, und auch den Wirbeln wieder seine individuelle Bewegungsmöglichkeiten zurückgibt.
Wie lassen sich also die Effekte der Dorn-Methode und auch der Breuss-Massage erklären.
Nach den Fakten, die uns auf Grund der Faszien Forschung nun vorliegen, denke ich, dass die Wirkung der Dorn-Therapie nicht auf eine tatsächliche Wirbelverschiebung zurückzuführen ist, wie es uns das einfache Denkmodell glauben machen will.
Der Druck lateral der Wirbelsäule, welcher bei guten Therapeuten „einschmelzend“ angepasst wird an den Tonus des darunter liegenden Gewebes, führt in Kombination mit der Patienten-Bewegung des Beines oder des Armes zu einer veränderten Spannung der Faszien.
„Geschwindigkeit ist der Feind der Faszien“ – das bedeutet, dass schnelle Bewegungen mit Druck im Gewebe dazu führen dass die Faszien sperren, sich zusammenziehen, eine Gegenspannung aufbauen, um das umliegende Gewebe (Nerven, Gefäße usw.) zu schützen.
Um eine Veränderung im Fasziensystem zu erreichen, muss ein angemessener Druck und eine langsame Geschwindigkeit der Bewegung kombiniert werden.
Die Behandlungssequenz der Dorn-Methode verbindet die Behandlung der Extremitätengelenke und damit besonders des Kapsel-Band-Apparates und der Propriorezeptoren mit den gezielten Faszienimpulsen mit Bewegungen des Patienten am Achsenorgan des Körpers (Wirbelsäule).
Bei den Wirkungen der Breuss-Massage sollte auch das Fasziensystem in die Überlegungen mit einbezogen werden. Die Faszienzüge des Rückens, welche in verschiedenen Tiefen vom Kreuzbein bis zum Kopf ziehen, sollten in einem ausgewogenen Gleichgewicht zu den ventral (vorne) verlaufenden Zügen stehen. In unserer vorwiegend von Aktivitäten der Beuger (beugende Muskeln) bestimmten Zivilisation, hat sich unter dem Einfluss der Schwerkraft ein Spannungsphänomen entwickelt, welches als Teufelskreis alle Probleme des Bewegungsapparates verstärkt oder daran sogar ursächlich beteiligt ist.
Durch die überwiegende Tätigkeit der Beuger, besonders der vielen Stunden in sitzender Position, verkürzt sich die Oberflächliche Vordere Faszienlinie und führt einen Zug nach unten Richtung Boden aus, die oberflächliche rückwärtige Faszienlinie führt einen Zug nach oben aus. Um im Schwerkraftfeld der Erde in seiner Struktur ausbalanciert zu sein, also das angesprochene Gleichgewicht zwischen den vorderen und hinteren Zuglinien zu erreichen, muss die Zugrichtung der oberflächlichen Vorderen Faszienlinie nach oben und der rückwärtigen nach unten laufen.
Durch die langsamen, bewussten Streichungen der Breuss-Massage wird genau auf die rückwärtige Faszienlinie in kaudaler (nach unten) Richtung Einfluss genommen. Die Behandlung der Faszienschichten auf diese Weise kann meiner Meinung nach sehr gut die positiven Effekte der Breuss-Massage erklären, abgesehen von den zu Beginn des Artikels beschriebenen positiven Effekte, die jede den Patienten achtsam meinende Berührung und Behandlung zur Folge hat.
Für die Zukunft sollte von Breuss-Behandlern noch die Behandlung der vorderen Faszienlinien in kranialer (nach oben) Richtung in das Behandlungskonzept miteinbezogen werden.
Zu den Überlegungen empfehle ich für weitergehende Informationen folgende Bücher und Artikel:
- Ida P. Rolf – Rolfing (Irisana Verlag)
- T. Myers – Anatomy Trains (Elsevier Verlag)
- P. Schwind – Faszien und Membrantechniken
- Dr. Zorn – auf www.rolfingB.de der pdf Artikel: Rolfing: Aufrecht und gelassen.
- www.fasciaresearch.com (für Informationen über die Faszienforschung)
- Zur Befundung nach Dr. Graulich: Dr. M. Graulich – Wunder dauern etwas länger (Margareten Verlag)
Die hier beschriebenen Überlegungen stellen meine persönlichen Erfahrungen dar, sowie das Ergebnis eingehender Beschäftigung mit der zur Verfügung stehenden Fachliteratur und dem Gespräch mit Kollegen aus allen Richtungen der manuellen Behandlungsmethoden.
Ich wünsche mir, dass diese Überlegungen zu weiterführenden Forschungen führen und so ein Konsens für alle manuell therapeutisch tätigen Menschen erzielt werden kann.